Ich war eine Stürzgeburt. Das war damals nichts Ungewöhnliches, denn unsere Familie hatte es eilig.
Als ich am 18, August 1937 in St. Petersburg (dem heutigen Putingrad) zur Welt kam, war meine Mutter gar nicht dabei. Sie war mit Onkel Teddy zum Bahnhof gelaufen, um die Billette zu kaufen.
Alle anderen in unserer Straße, dem Lastimynutski-Prospekt, sprachen von Fahrkarten, aber Mamuschka sagte Billette, denn in unserer Familie herrschte ein hoher Ton.
Eine der frühesten Erinnerungen an meine Kindheit führt mir Mamitschka in Erinnerung, wie sie für meine ältere Schwester Tinka und mich Schlummerlieder von Arnold Schönberg sang.
Wir Kinder hatten einen Heidenspaß, das Einschlafen bis nach dem zwölften Ton hinauszuzögern. "Du kleiner Strolch«, pflegte Mamuschki dann immer zu sagen und schlug mir mit ihrer fehlenden Hand mitten ins Gesicht.
Sie hatte die Hand während eines Ernteurlaubs auf der Krim verloren, aber für sie war die Hand immer noch da.
Die Billette würden uns ermöglichen, mit der Eisenbahn bis nach Wladiwostok zu fahren. Mamutschka, meine Schwester Tinka und ich sollten an der Pazifikküste auf meinen Vater warten. Gemeinsam wollten wir dann mit dem Schiff nach Kalifornien, wo ein Bekannter meiner Eltern sich um uns kümmern würde. Der Bekannte war ein Schriftsteller, den meine Eltern während einer privaten Weihnachtsfeier 1935 in Augsburg kennen gelernt hatten.
Uns Kindern gegenüber wurde immer von „Onkel Baal” gesprochen.
Manchmal, wenn mein Vater besonders gute Laune hatte, sang er beim Rasieren leise vor sich hin: »Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal, war die Erde nackt und grau und leer und fahl.«
Wir Kinder verstanden den Sinn nicht so recht, aber uns gefiel es, wenn der Vater sang. Leider konnten wir es nicht hören, denn Vater sang und rasierte sich in Paris. Don lebte er mit »einem Frauenzimmer«, wie meine Mutter uns erklärte.


/Harald Schmidt "Mulatten in gelben Sesseln"/

--
Darauf kannst du Gift nehmen